Eine der seltsamsten Ausprägungen westlicher Lebensart sind die „Gender Studies“. Im Kern geht es darum, die Festschreibung von Weiblichkeit und Männlichkeit überall da zu erforschen und zu hinterfragen, wo sie auftauchen. Also überall. Mittlerweile gibt es so viele Abwandlungen dieser Studienrichtung, dass sie sich gar nicht mehr in Absätze fassen lassen. Zweifelsohne aber haben Konstruktivisten sehr viel Freude an diesem Studienfach, denn der Mensch als Gesamtes erscheint oftmals als reine Konstruktion und regelrecht planbar.
Theorie
Von der Hand zu weisen ist das nicht gänzlich, denn wer einmal in diese Welt geworfen wurde, wird ab der ersten Sekunde den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen. Sie formen des Menschen Wahrnehmung von der Welt ebenso, wie sie unser Handeln beeinflussen. „Das tut man nicht!“ ist das erzieherische Äquivalent hierzu, das als steter Tropfen dem Kinde das plantschlose Baden lehrt. Diese Zwänge, so stark sie auch wirken, sind nicht festgeschrieben. Im Gegenteil, in einem Akt der Emanzipation kann eine jede sie aufbrechen und beginnen die Dinge anders zu tun. Es ist nur selten ein einzelner Schritt, der dazu führt, sondern vielmehr ein ständiges Gegensteuern. Je stärker die Gewohnheit, desto langwieriger das Ändern der Gewohnheit.
Mary Wollstonecraft, by James Heath (1757–1834), engraved from the painting of John Opie (1761–1807) [Public domain, {{PD-US}}], via Wikimedia Commons
In den Genderdebatten unserer Zeit führt jeder Diskurs irgendwann an diesen Punkt der Freiheit des Ichs. Bestritten wird die Einengung, bestritten wird der Zwang. Zu sehr widerstrebt es den durch die Aufklärung geprägten und durch den Liberalismus gestählten Deutschen, dass sie nicht gänzlich Herr ihrer selbst sein sollen. Dabei reicht doch ein Blick in die Vergangenheit, dass man immer wieder „die freie Entscheidung“ zur Diktatur getroffen hat. Und diesen Diktaturen oder gar totalitären Regimen war dieses Denken nicht fremd. Sei es nun die Hitlerjugend des dritten Reiches oder die Pioniere der DDR. Die Jugend galt den Herrschenden nicht nur als Zukunft, sondern auch als gesellschaftlich zu prägendes Element, mit dem sich die eigene Machtbasis festigen ließ. Auch das Zähmen der schwerer zu bändigenden Erwachsenen ähnelte dem sehr und verlief über Gruppenzwang.
Es ist unausweichlich: Das Individuum hat niemals die Freiheit erfahren, die der Mensch gerne in sich selbst gefunden hätte. Wichtiger aber ist, dass, wie Chantal Mouffe es formuliert, Identität niemals etwas von vornherein Gegebenes darstellt, sondern immer durch diskursive Konstruktion produziert wird.[1]
Realität
Keine hat das besser eingefangen als Lola Lafon. Die 1975 in Bukarest geborene Autorin, wuchs in Rumänien wie in Frankreich auf. In „Die kleine Kommunistin die niemals lächelte“ erzählt sie die Geschichte von Nadia Comăneci, einer rumänischen Kunstturnerin, die bei den Olympischen Spielen des Jahres 1976 als Erste die Höchstnote 10,0 erreichte. Was als Biographie gedacht war, wird zu einem großen Hadern zwischen der Autorin und dem in Worte zu fassenden Objekt, das sich im Verlauf der dargestellten Gedanken, Recherchen und der Kommunikation zwischen den beiden immer mehr zum Subjekt wandelt. Lafon konfrontiert ihre durch öffentliche Darstellung geprägten Recherchen mit der Selbstsicht von Comăneci und legt dadurch den gegenseitigen Widerspruch offen, der sich bis heute durch sämtliche Ost-West-Diskurse zieht.
Doch der Clou ist nicht die offensichtliche Differenz, es sind die Parallelen zwischen den Systemen in Ost und West. Es ist die Gleichheit ihres Marketings, das die Welt nach außen hin bespielt, während sich im Hintergrund die menschlichen Schweinereien sehr ähneln. Nur ist es auf der einen Seite das „Genie der Karpaten“, der rumänische Präsident Nicolae Ceaușescu, der den Menschen ihr Leben verfügte und auf der anderen Seite der Zwang des Geldes. In beiden Fällen fanden sich schön klingende Worte für das Desaster der jeweiligen Bevölkerung. Und so wundert man sich am Ende des Buches nicht mehr, dass die Politik und ihre Protagonisten sich auf ihrer höchsten Ebene auch dann noch verstehen, wenn alles unter ihnen verdammt ist.[2]
Nadia Comăneci im Oktober 1977. by Dave Gilbert via Flickr (Liezenz CC BY-ND 2.0)
Die Geschichte der Comăneci ist aber auch eine Geschichte der Körpernormen. Ein Kind, an dem sich Ost wie West berauschte. Inszeniert vom kommunistischen Staat, verbreitet auch durch die westlichen Medien. Hofiert von den Präsidenten beider Blöcke. Kein Gramm Fett zu viel zierte ihren Körper, bis sie zum Teenager wurde. Ab diesem Moment jedoch konnte sie nur noch enttäuschen. Ein Busen begann sich ebenso aus ihr hervorzuheben wie die Hüften unter einer permanenten Weiblichkeit litten. Fett sei sie geworden, aus der Sicht der Öffentlichkeit und krank, in der Selbstsicht. Ein irrsinniger Anspruch von allen Seiten, von dem noch nicht einmal gesagt werden könnte, dass die Gesellschaft ihn so heute nicht mehr äußern würde.
Ein Punkt, an dem eigentlich nicht nur Feministinnen „Stopp!“ rufen sollten. Die Öffentlichkeit, ausformuliert über die Medien, überschreitet hier eine tödliche Grenze. Sie geht aktiv in das Körperliche und beginnt Individuen zu gestalten. Durch den Druck der Erwartungen wird eine Norm geschaffen, die dazu führt, dass das Individuum sein „Ich“ zerstört, um diese Erwartungen erfüllen zu können. Es verbleibt nur das Öffentliche, das sich treiben lässt und nicht mehr in der Lage ist aktiv zu steuern. Die Norm ist nur keineswegs einseitig, sie prallt ab und wirkt zurück auf die Gesellschaft selbst, in der kleine Mädchen und Jungen beginnen dieser Selbstzerstörung nachzueifern.
Erkennen
Was damals Nadia Comăneci war, sind heute die martialischen Legowelten. Reality Shows, die vorgeben Models auszubilden, die Geschichte von Lina Scheynius oder einfach nur der Hungerhaken Barbie. Es ist nicht vorbei. Wir brauchen demnach in unserer Gesellschaft Menschen, die sich aktiv damit beschäftigen, wie man diese Tretmühlen öffentlicher Daseinsfürsorge aufbrechen kann. Die darauf hinweisen, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. Die Normen brechen. Die also aktiv daran mitwirken, dass die Gesellschaft in Bewegung bleibt und dadurch die Möglichkeit hat, sich zum Positiven hin zu entwickeln.
Es mag nicht gottgegeben sein. Doch schaut man sich bei den zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Akteuren um, dann ist der Bereich des Feminismus der naheliegende Akteur für diese Aufgabe. Als ideologische Grundlage mag das Aufbrechen der Geschlechterrollen noch dienen, doch geht es längst weiter. Über die Verbesserung des Miteinanders in der Familie, hin zu einer veränderten Arbeitswelt oder der wenig simplen Definition des Begriffs „Gerechtigkeit“ in einer alle umfassenden Form. Das Gedankengebäude ist im Lauf der Jahre recht komplex geworden. Es ist in einem gewissen Sinne auch erstaunlich, aber der stete Status als Underdog, scheint geholfen zu haben, das Denken aufrecht zu erhalten.
In einer Gesellschaft, deren postpolitische[3] Einschläge immer mehr als gesetzt gelten, könnte dieses Bemühen durchaus als extremer Auswuchs angesehen werden. Der Feminismus wäre, mit Mouffe gedacht, in einer sonderbaren Position. Ein im Sinne der Gesellschaft extremer Protagonist, in dem sich dennoch die zurzeit stärkste pluralistische Saat befindet. Zugleich findet sich ein hohes Maß an Unpolitischem vor. Der Extremismus in seinem ursprünglichen Sinne. Diesen Widerspruch, diese Verquerung, gilt es aufzulösen, wenn eine größere Breitenwirkung erzielt werden soll.
Handeln
Ich schlage vor, bei der Betrachtung des Feminismus künftig zwischen Protagonisten zu unterscheiden, die aktiv handeln und die theoretisch handeln.
Der Hintergrund für diese notwendige Trennung liegt in den Möglichkeiten „des Internets“ begründet. Es hat sich in diesem eine lautstarke Szene an ProtagonistInnen gebildet, deren Aktivität sich in Verkündung von „richtig und falsch“ erschöpft. In einer Art Meinungsabgleich wird versucht, die eigene Definition den Gegnern wie auch den eigenen Reihen zu verordnen. Der Netzaktivismus versucht also Einfluss dadurch auszuüben, dass er nicht aktiv handelt, sondern aktiv die Definitionsmacht an sich zieht um nicht handeln zu müssen.
Hypatia kurz vor ihrer Ermordung, by Charles William Mitchell [Public domain], via Wikimedia Commons
Es gibt momentan kein Zusammenfinden dieser beiden Seiten. Ihre Veranlagung ist zu unterschiedlich. Vor allem aber sind die Waffen andere. Wer aktiv handelt, mit dem Außen kämpft, hat weniger Ressourcen über, um auch noch den Kampf um Deutungshoheit in den eigenen Reihen zu kämpfen.
Folgerichtig ist eine Trennung, zumindest in der medialen Betrachtung, vorzunehmen. Relevant ist, wer in die Welt hinein handelt. Relevant ist, wer pluralistisch agiert, sich also Diskursen stellt und sie nicht niederplärrt. Das heißt, auch seitens der Medien und sonstigen Betrachter von außen gilt es, Aufmerksamkeit angemessen zu verteilen und nicht, der kurzfristigen Click-Erfolge wegen, immer nur den extremistischen Part darzustellen.
Natürlich ist das hochpolitisch. Es ermöglicht dem Feminismus, künftig auch „normale Menschen“ zu erreichen. Mit ihnen in Kommunikation zu treten. In Kommunikation, nicht Belehrung. Wenn wir uns fragen, warum es im Internet immer so rabiat zugeht, dann könnte die Antwort auch lauten: weil dem Individuum die eigene Unwissenheit in Dauerschleife vorgeführt wird. Es ist einer steten Belehrung ausgesetzt und reagiert dementsprechend häufig mit Abwehrreaktionen.
Wenn der Mensch ebenso frei wie manipulierbar ist. Wenn sich Identität durch diskursive Konstruktion ergibt, dann liegt darin auch die Erkenntnis, dass Anreizsysteme besser funktionieren als repressive Vorgaben. Für einen Diskurs bedeutet dies, dass der Diskurs selbst schon formt. Es benötigt also nicht der Grabenkämpfe um beispielsweise die Verwendung einzelner Worte. Die Worte formen sich, in dem sie gebraucht werden. Sie überzeugen durch Nutzung. Der entscheidende Schritt ist also ihre Verwendung. Das Handeln und ihr Erklären.
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Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen 1. Advent.
[1] Umgedacht aus „Plädoyer für eine agonistische Alternative“, erschienen in Blätter 2014-12
[2] Auf dieses gegenseitige Verstehen verließ sich auch Hermann Göring. Es währte nicht lange, doch zu Beginn seiner Gefangenschaft wurde ihm „die Ehre eines Offiziers“ zu Teil, mit all den dazugehörigen Vorteilen.
[3] Man fragt sich langsam, warum über „Systemmedien“ und „Einheitsparteien“ philosophiert wird, aber der Begriff des Post-Politik nicht so richtig in der Debatte auftauchen will. Dabei hat er doch den direkten Link zu den heutigen Problemen in sich.
Marco Herack twittert als @mh120480.
[…] Eigentlich ist das Buch eine Biographie über Nadia Comăneci, einer rumänischen Kunstturnerin, die bei den Olympischen Spielen des Jahres 1976 als Erste die Höchstnote 10,0 erreichte. Doch ist das nur die Idee gewesen, mit der Lola Lafon begann. Sie endete mit einem Werk, dessen Hadern die größte Stärke ist. Und dabei schenkt sie uns einen dieser seltenen Einblicke in das Leben in zwei Systemen, die sich zu widersprechen scheinen. Sie offenbart die Parallelen von Kapitalismus und Kommunismus, wodurch der Widerspruch sichtbar wird, den unsere Gesellschaft lebt. In der Gegenwart erleben wir ein Zusammenwachsen dieser Parallelen. Es hat mich inspiriert. […]