Es war ein angenehmer Samstag. Die Nachwehen von Xaver spielten, begleitet von schüchternem Sonnenschein, in den Berliner Straßen. Eine Durchflutung war weit und breit nicht zu erspähen und so konnte der hungrige Mensch sich gefahrlos auf die Jagd nach Proviant begeben. Von A nach LPG und schlussendlich C. Die Dreifaltigkeit ist ebenso allgegenwärtig wie Kinder. Alle paar Meter stolpert man über sie oder sie in einen rein. Meist rappeln sie sich dann lachend auf und torkeln weiter oder suchen verunsichert die Hand ihrer Eltern. Kaum haben sie diese geschnappt, ist auch schon wieder alles gut und die Welt kann weiter entdeckt werden. „Warum ist das Blatt Grün? Schau mal, was für einen toll verdreckten Flaschendeckel ich hier gefunden habe! Das glitzert! Ich muss unbedingt an dieser Autoscheibe lecken um zu erfahren, wie sie schmeckt.“
Während so ein kleines Kind ganz unbefangen und unbeholfen mit dieser Welt umgeht, sie entdeckt und eigene Erfahrungen durch Fragen ergänzt, steht der erwachsene Mensch nicht selten recht bedröppelt da. „Ja ähm hmmm also…“ ist ein gerne benutzter Einstieg in die Erklärung von Dingen, die eine alltägliche Rolle spielen und über die genau deswegen niemand nachdenkt. Das Wasser kommt ebenso aus dem Wasserhahn wie der Strom aus der Steckdose. Und spätestens an dieser haben die Kinder ja wohl eh nichts zu suchen. Bei jenen, die in diesem Moment nicht schimpfend „Weg da!“ rufen, erzeugt das Kind ein Nachdenken über die Welt. Einfach weil es da ist und weil es tut, was es unreflektiert eben tut. Spiegeln, erklärt haben wollen, Wissen erfahren.
Glauben Sie, man kann in die Zukunft sehen?[1]
Für mich unterliegt diese Frage einer gewissen Dringlichkeit. Seit Jahren fühle ich mich von Wahrsagern, Hellsehern und ähnlichen Herren umgeben. Ihr Unterhaltungsfaktor schwankt enorm. Lustig wird es eigentlich immer nur dann, wenn diese Gaukler mal richtig falsch liegen. Kleinere Fehler werden ihnen im Guten wie im Schlechten quartalsweise verziehen und einmal jährlich bekommen bis zu drei von ihnen gar einen Nobelpreis für das Erstellen komplizierter mathematischer Gleichungen, die auf eher simplen geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Wobei die Bezeichnung „Nobelpreis“ nicht ganz richtig ist, denn eigentlich bekommen diese Ökonomen einen Preis der schwedischen Reichsbank, der in Erinnerung an Alfred Nobel vergeben wird.
Emanuel Derman hat sich die Arbeiten der diesjährigen Gewinner, Eugene Fama, Robert Shiller und Lars Hansen, näher angeschaut und festgestellt, dass bei den Herren ein grundsätzliches Missverständnis vorliegt. Sie wähnen sich in dem Umfeld einer exakten Wissenschaft und glauben daher, sie könnten menschliches Handeln anhand eines Modells nachbilden. Es ist jedoch umgekehrt: Die Ökonomen reduzieren menschliches Verhalten auf ihre (im Vergleich zum Menschen) rudimentären Modelle. Solch eine Reduktion menschlichen Verhaltens unterliegt mindestens diverser Folgewirkungen. Zum einen der Reduktion selbst, die Eigenschaften, Absichten, Marktmacht, Handlungsfähigkeit oder Hemmschwellen (etc.) des oder der (einzelnen) Menschen nicht berücksichtigt. Und zum anderen besteht das Problem in den Annahmen derjenigen, die ein Modell erstellt. Ihre Weltsicht entscheidet, welche Gewichtung den verbleidenden Faktoren zugesprochen wird.
Mittlerweile bestimmen solche Modelle unser aller Leben und greifen selbst in modellfernen Disziplinen wie der politischen Theorie um sich. Dabei fällt auf, dass Modelle auch im Sozialismus eine wichtige Rolle spielten, der Ansatz jedoch ein anderer war. Die zwei grundverschiedenen Ansätze des Kapitalismus und Sozialismus führen am Ende der Betrachtung zu etwas Gleichem. Oben benannter Reduktion.
Auch Models sind eine Reduktion der Realität. Sie versuchen die Frau auf ein Schönheitsbild- und Ideal zu reduzieren um Waren durch Normierung billiger in Masse zu produzieren und öfter zu verkaufen. Es ist wie bei einem ökonomischen Modell, das danach trachtet die Menschen zu vereinheitlichen.
Foto von Phil King; Lizenz: CC BY 2.0 via Flickr
In der Planwirtschaft wurde ein erheblicher Aufwand der statistischen Erfassung betrieben um auf Basis dieser Daten für die nächsten Jahre eine Planungssicherheit zu erzeugen. Die Reduktion erfolgte innerhalb des Wirtschaftsmodells dadurch, dass ein knappes Warenangebot zur Verfügung stand. Die Bürger konnten offiziell nur das kaufen, was der Staat zur Verfügung stellte. Was der Bürger über das Verfügbare hinaus begehrte, und somit ein Luxusgut darstellte, musste entweder selbst geschaffen oder von Außerhalb besorgt werden. Bei der Befähigung zum Import half der Bevölkerung das knappe inländische Warenangebot und die „Arbeit für alle“-Politik in der DDR, bei gleichzeitig niedrigen Lohnunterschieden. Denn dadurch war bei den interessierten Bürgern Geld verfügbar. Hierin findet sich auch ein Grund für das schlussendliche Streben nach Westen. Das eigene Modell wurde in die Verlockungen der Konkurrenzsystems hineingedacht.
Im Kapitalismus hingegen existiert ein Warenüberangebot. Knapp ist hier das Geld, also die Fähigkeit die angebotenen Waren zu erwerben. Das erzeugt eine höhere Komplexität an wirtschaftlich frei agierenden Unternehmen, die danach trachten sich selbst zu vergrößern, also ihre Marktmacht auszuweiten. Zumindest theoretisch werden sie zum unmittelbaren Konkurrenten des Staates, der danach strebt seine eigenen Machtbereiche zu erhalten. Praktisch erfolgt an genau dieser Stelle jedoch die Reduktion. Der Staat muss planen und stellt seine Planung auf die tönernen Füße der Modelle diverser Ökonomen. Da die Wirtschaft die Basis zur Reichtumserzeugung eines Landes darstellt, orientieren sich deren Kennziffern an ihr. In Deutschland hält der Staat sich hierzu beispielsweise die Wirtschaftsweisen. Die Folge ist, dass die gesamte Gesellschaft nur noch auf Basis von wirtschaftlichen Kennziffern verwaltet wird und sich damit dem Diktat der Wirtschaft, des Geldes, unterwirft. Unterwerfen muss, wenn ein Land innerhalb dieses Systems gegenüber anderen erfolgreich bestehen möchte. Aus diesem Grunde konnte die Systemkonkurrenz zur sozialistisch orientierten DDR auch ein Sozialwesen „produzieren“, welches nach dem Sieg gegen den Sozialismus sogleich eingedämmt wurde.
So verdächtig es auch klingen mag, in Deutschland existiert keine unheilige Allianz zwischen Politik und Wirtschaft, die zu Lasten der Bevölkerung geht. Das wäre zu hoch gegriffen. Die Problematik ist vielmehr systemimmanent. Wirtschaft, wie auch Politik, frönen lediglich dem gleichen Glauben. Eine Art Zahlenmystik, in der das Wachstum des BIP ebenso ein Fetisch ist wie die Exportstärke und ein starker Euro. Kennziffern, die sehr klar und in der Breite leicht verständlich scheinen. Sie helfen den Akteuren in der Vermittlung ihrer Anliegen und müssen daher auch zwingend als Rechengrundlage dienen. Der Fehler im System ist, dass die genutzten Kennziffern sich nur an den Bedürfnissen eines (der vielen) gesellschaftlichen Protagonisten orientieren: „Der Wirtschaft“.
Zu der ökonomischen Arbeit, sprich Analyse, existiert kein Korrektiv. Häufig veröffentlicht ein Ökonom eine Studie und verkündet seine daraus gewonnenen Erkenntnisse. Der Mensch, er ist dann so und verhält sich wie folgt. Die gewonnenen Erkenntnisse werden dann als absolute Wahrheiten verkauft. Sie passen sich meist wunderbar in die eleganten Modelle ein, nach denen wir alle leben sollen. Was dabei übersehen wird, ist, dass die Studien und Erkenntnisse der Ökonomen einen Menschen abbilden, der sich in dem bestehenden System bewegt. Einen Menschen im Kapitalismus, aber auch nur in diesem. Es wird verschwiegen, dass Menschen sich oftmals anders verhalten würden, wenn die Rahmenbedingungen andere wären. Die Konsequenz daraus ist, dass Forschung nicht mehr dem Menschen dient ein System zum Wohle aller zu gestalten. Vielmehr versucht die Ökonomie ein System so zu formen, dass es den Menschen bestmöglich als ökonomisch brauchbare Größe verwertet. Der Mensch wird versucht zu formen, damit das Scheitern der Modelle nicht sichtbar wird.
Anders gesagt: Die Reduktion der komplexen Realität sperrt das Individuum in Annahmen über sein Sein ein und macht die Zukunft dadurch kurzfristig vorhersagbar. Bis zu dem Moment, in dem das Individuum aus dem Bestehenden ausbricht oder die erforschte Realität durch die Bewegung einer Nichtbewegung so stark verändert hat, dass die Modelle scheitern müssen.
Aber Adam Smith, mag mancher nun denken, und die unsichtbare Hand des Marktes. Ist es nicht das, was hier beschrieben steht? Selbst die Ökonomen werden doch korrigiert.
Nein.
Sicher, wir sollten forschende Ökonomen als Marktteilnehmer betrachten, denn Milton Friedman haben wir es zu verdanken, dass Ökonomie mittlerweile weniger der Wahrheitsfindung dient als vielmehr ein Geschäftsmodell ist. Paul Krugman ist in diesem Sinne der eigentliche Witz in der Historie, dies aber nur am Rande. „Die unsichtbare Hand des Marktes“ hat ihre gedanklichen Ursprünge in der Bibel, wie Tomáš Sedláček in seinem Buch, die Ökonomie von Gut und Böse, darstellte. Smith selbst hatte den Gedanken, wendete ihn aber anders an. Heute ist es eine Floskel von Lobbyisten, die den Finanzmarkt liberalisieren wollen. Der gedankliche Ansatz einer unsichtbaren Hand ist an für sich nicht falsch. Man muss ihn jedoch mit dem Aspekt der Zeit denken, sonst ist er vollkommen sinnlos. Gerade bei Verlusten ist es entscheidend, über welchen Zeitraum sie erfolgen. Eine Billion Euro Verlust über 10 Jahre hinweg kann ein Finanzsystem viel länger verkraften als einmal zehn Billionen Euro Verlust an einem Tag. Werden Verluste über die Zeit gestreckt, befördern sie den vorhandenen Fehler (nicht nur beim Verursacher selbst) und die unsichtbare Hand kommt erst Jahre später dazu den Fehler zu korrigieren. Am Finanzmarkt ist es noch extremer, denn wenn nur ausreichend viele Menschen an einen Fehler glauben, muss dieser gemacht werden um Geld zu verdienen. Also alle anderen, die es besser wissen, müssen den Fehler begehen, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollen. Das Spiel geht so lange, bis die Auswirkungen des Fehlers groß genug sind, damit die Masse sich der Realität stellen muss. Die Korrektur wird dann stärker sein, als zum Beginn des Fehlermachens. Wer möchte an dieser Stelle noch von einem funktionierenden Marktmechanismus und „Selbstbereinigung des Marktes“ sprechen?
Man darf nicht davon ausgehen, dass die Akteure in der Ökonomie und am Finanzmarkt dumm sind. Im Gegenteil, ihnen ist die die Absicht des Alltags zu unterstellen. Sie orientieren sich an ihren eigenen Vorteilen, die diese Form der Umverteilung[2] mit sich bringt und ignorieren die Nachteile für die Gesamtgesellschaft. Was momentan als ökonomische Forschung bezeichnet wird, ist etwas, gegen dass die Zivilgesellschaft sich beginnen muss zu wehren. Nicht durch Protest, der ist in Deutschland so sinnvoll wie Petitionen an den Bundestag einzureichen. Vielmehr geht es um das Stellen simpler Fragen im Stile eines Kindes: „Papa, wie willst du leben? Mutti, kann der laute Mann da die Zukunft vorhersagen?“
Denn eines ist gewiss: So falsch Modelle auch sein mögen, so intensiv werden sie politisch genutzt, wenn ihre Ideologie systemkonform genug ist.
[2] Darauf läuft es am Ende hinaus. Wer am Finanzmarkt agiert, nimmt die Fehler und ihre Folgekosten in Kauf. Auch hier wird nur das System versucht zu verstehen und auszunutzen. Deutet sich eine negative Phase an, wird ein Teil des Geldes in Sicherheit gebracht (Sachanlagen) und mit dem Rest wird versucht auch noch am Verfall zu verdienen. Das heißt es entwickeln sich regelrechte Konjunkturriten.
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