In diesem Blog ist es leider etwas sehr ruhig geworden, was daran liegt, dass ich mit den Podcasts (Mikroökonomen, Foreign Times) etwas zu stark ausgelastet bin und viele Debatten sich besser per Gespräch führen lassen. Auch habe ich in den letzten zwei Jahren das innige Gefühl verspürt, vielleicht weniger diskutieren zu wollen als viel mehr Dinge zu erfahren. Es lohnt sich, in Zeiten des Umbruchs mehr zuzuhören als Meinungen zu verkünden. Wir haben hier in diesem Blog daher vieles, was sich im Nachgang über die Veränderungen ergab, auch frühzeitig richtig gedeutet. Falsch lagen wir hauptsächlich dann, wenn ein Schnellschuss unsere Feder trieb.
Es existieren jedoch auch Debatten, die wir seit Jahren führen, in denen sich etwas ganz Wunderliches getan hat. Um eine dieser Debatten soll es hier gehen. Der Auslöser ist das aktuelle Buch von Bernd Ulrich »Guten Morgen, Abendland – Der Westen am Beginn einer neuen Epoche«. Das Werk selbst stellt sich als Weckruf vor, sagt aber nicht wirklich, wen es wecken will.
Bernd Ulrich versucht mit diesem Buch etwas für deutsche Verhältnisse ungewöhnliches. Ein positives Bild von diesem Land, das sich selbst so gerne als unzureichend und kaputt ansieht. Die Stärken dieser Betrachtung ergeben sich dann passenderweise in den negativen Auffälligkeiten. So kann er von einem Kanzlerkandidaten Schulz berichten, der in seiner einstigen Funktion als Präsident des Europäischen Parlaments nichts Positives über die EU zu formulieren weiß. Der Journalist war hier nicht Angreifer, sondern Verteidiger der Sache des Politikers. Eine Beobachtung für die Götter, die vor einer Bundestagswahl formuliert, die Frage in den Raum stellt, wie so jemand überhaupt Kanzler werden könnte.
Diese starken Momente werden jedoch von einem falschen Fundament gefüttert, das diesem Buch zu Grunde liegt. Der Annahme, Deutschland verfüge über ein grundsätzlich liberales Establishment.
Ulrich behauptet, dies als Grundlage, dass weder die Eurokrise, noch die Annexion der Krim in Deutschland die »german angst« zu Tage befördert haben. Deutschland sei bereits ein Hegemon ohne Machtdemonstration. Cool, nicht aus der Ruhe zu bringen, und selbst die Flüchtlingskrise steckte Merkel, durch ihr im Volk erarbeitetes Vertrauen, weg. Man spürt regelrecht die Selbstberauschung des Autors am eigenen Positivismus, wenn er Merkels neoliberale Grundlagen lediglich ihrer Annahme zuordnet, den Deutschen würde zuviel Bequemlichkeit schaden.
Diese Zuspitzung führt den Autor zu der recht zeitgeistigen Aussage, dass Deutschland eine bedeutende Rolle im Kampf des »Offenen, Liberalen, Demokratischen« gegen die illiberalen Staaten dieser Welt spielt. Eine angedeutete Mittelpunktrolle. Die Illiberalen wiederum, würden vor allem Merkel mehr ablehnen als alles andere.
Eine sonderbare Vermischung. Zum einen soll es einen Kampf des Illiberalismus innerhalb des Westens geben. Nur haben Putin und Erdogan dabei als Beispiele wenig verloren. Lediglich Putin ist ein Referenzpunkt für den Westen, dies aber vor allem für die Wertkonservativen, die nicht vollständig deckungsgleich mit den Illiberalen sind.
Zwar gibt es auch in Europa Tendenzen, doch fragt sich wie hoch man Ungarn und Polen spielen sollte. Zumindest letztere Verfügen über eine starke Zivilgesellschaft. Man könnte hier auch Selbstversicherungskämpfe der EU vermuten. Ein notwendiges Übel innerhalb einer Evolution des Gesamten.
Wie wir aktuell beobachten dürfen, findet der Kampf gegen die Illiberalen im Westen vor allem in den USA statt. Dort greifen jedoch die »Checks and Balances« entgegen Präsident Trump bisher recht gut. Er unterschreibt Sanktionen gegen Russland, die er nicht unterschreiben möchte. Er bleibt in Afghanistan, obwohl er aussteigen wollte. Die Neuverhandlung von NAFTA wurde selbst von Demokraten, auch einst von Obama, gefordert. Das Klimaschutzabkommen von Paris wird eine Entscheidung der nächsten Präsidentschaft. Richtet Trump viel Schaden an? Zweifelsohne, aber viel von dem was nun passiert, wäre auch unter einem »normalen« republikanischem Präsidenten passiert.
Man sollte nicht den Fehler machen das normal Konservative als illiberale Bewegung zu bezeichnen. George W. Bush wirkt nur in Zeiten der Rhetorik von Trump als Heiliger. Und ebenso ergeht es uns momentan mit Merkel. Eine Kanzlerin, die in ihrer Amtszeit selbst im Angesicht einer Flüchtlingskrise keine Vision für dieses Land vermitteln konnte, außer einer deutschen Tugend vom »Wir schaffen das!«, kann nur in Zeiten der Rhetorik von Donald Trump als »Retterin der freien Welt« angesehen werden.
Wie konservativ Merkel politisch ist, zeigt sich an den Entscheidungen, die sie nie treffen wollte. Der Mindestlohn, der unter Widerstand der CDU eingeführt wurde, ist so niedrig, dass er nicht dafür reicht eine Rente über der Mindestsicherung zu erarbeiten. Die Ehe für alle war ein Versehen. Die CDU, die von der Grundlage her auf den Erhalt der Schöpfung ausgelegt ist, hat es gar versäumt die Infrastruktur des Landes zu erhalten. Und immer mehr Menschen hängen in Jobs fest, die ihnen keine Perspektive mehr nach oben bieten. Sie werden im Niedriglohnsektor verwaltet.
Merkel ist liberal wider Willen, weil sie sich in einer Koalition mit der SPD befindet. Vergessen scheint die Zeit unter Schwarz-Gelb, in der wesentlich haltloser regiert wurde1.
Man könnte dies bis hierhin als politische Differenz ad acta legen. Die Heroisierung Merkels hat jedoch auch eine Heroisierung dessen zu Folge, was das Volk durchkämpft. Weil die Frage ja viel mehr lauten müsste, »Warum ist die AFD so schwach?«, übergeht Bernd Ulrich mit seinem Positivismus eine der grundsätzlichsten Veränderungen in Deutschland.
Hass
Es ist rätselhaft, wie man in einer Betrachtung Deutschlands, in der Gegenwart, diese grundsätzliche Verschiebung missachten kann. Die Gespräche für das Buch haben, laut Dankesliste, durchaus Menschen inkludiert, die sich dieser Thematik besonders intensiv ausgesetzt sahen oder zumindest einen gewissen Zugang zum Thema haben.
Doch der Hass kommt nicht vor.
Die Angriffe auf Flüchtlingsheime sind laut BKA von 177 in 2014 auf 1031 in 2015 und 988 in 2016 hochgeschnellt. Das, was Merkel laut Ulrich hier gut weggesteckt hat, hat für andere Menschen keinesfalls so funktioniert. Die Gesellschaft ist nicht nur politisch polarisiert worden, sondern es gibt einen erheblichen Anteil an Menschen, die meinten zur Gewalt als Mittel ihrer Wahl greifen zu müssen. 2.545 Straftaten gegen Flüchtlinge außerhalb ihrer Unterkünfte sprechen hier ebenfalls eine klare Sprache.
Es ist aber auch so, dass man in seinem bürgerlichen Wohnheim davon wenig mitbekommt. Da rennt niemand mit Fackeln vorbei und es schmeißt einem auch niemand einen Molotowcocktail ins Haus.
Gleiches gilt für das allseits bekannte Phänomen des Mobbings per Netz, dem sich vor allem Frauen ausgesetzt sehen. Gepaart mit der Flüchtlingskrise wurde dieses Mobbing immer realer, griff in das Leben verschiedener Person ein. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Phänomen seit der Ukraine-Krise bekannt. Journalistinnen ausländischer Herkunft mussten sich damit schon länger rumplagen. Doch spätestens hier brach eine Grenze vollkommen in sich zusammen. Angriffe und Bedrohungen sind heute eine »Normalität«, mit der Frau rechnen muss, wenn sie sich öffentlich positioniert.
Hier findet sich der wohl größte Fauxpas des Buches. Denn wer Deutschland verstehen und retten will, der muss eine Sache besonders angehen:
Das Establishment befindet sich in der Opferrolle.
Das Establishment, das sei das liberale Milieu. Was könnte ein Sinnbild für dieses liberale Establishment in der Opferrolle sein?
Carolin Emcke in ihrer Rede bei der Friedenspreisverleihung
»u.a. weil sie Journalistin ist und dafür beschimpft, bedroht und beleidigt wird. Das alles ist sicher nicht abzustreiten, nur wirkt es befremdlich, wenn eine der bekanntesten Journalistinnen des Landes einen renommierten Preis bekommt und dann von sich und ihresgleichen als Opfer spricht. Mehr Establishment geht doch eigentlich gar nicht als Carolin Emcke.«
In der Rede ist der hier vorgetragene Bezug nicht zu finden. Man muss sehr ambitioniert interpretieren, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Abgesehen davon, zeigt allein die aufgeregte Debatte um die Ehrung Emckes, wie auch über ihre anschließende Rede, dass Emcke vielleicht theoretisch zu einem Establishment gehört, aber genau jenes publizistische Establishment ihr zugleich den Zugang verwehrt. Sie soll draußengehalten werden. Ein Klassiker des Journalismus und der Frauen.
Zu der Gegenwehr gegenüber Carolin Emcke in den Feuilletons und politischen Debatten, kommt aber auch noch die Tatsache hinzu, dass ihr aufgrund ihrer Identität auch aus dem Volksmund so einiges an Gegenwind entgegenbläst.
Bernd Ulrich, der sich die Zugehörigkeit zum Establishment gleich mitverordnet, übersieht hier nicht nur, dass eine Preisverleihung keine Morddrohungen rechtfertigt, sondern er übersieht auch, dass Emcke noch ein paar andere Spezifikationen hat und ertragen muss, die ihm selbst in seiner persönlichen Rolle nicht zu Gute kommen.
Das Irren und Verlaufen ist etwas, das Menschen, die für ihre geistige Offenheit bezahlt werden, gelegentlich passiert. Aber wie man auf die Idee kommen kann, damit Gewaltandrohungen und Mobbing zu rechtfertigen, als etwas zu definieren, das hinzunehmen ist, bleibt unverständlich. Auch die großen ruhigen Wohnungen, die Ulrich damit bezahlt sieht, halten keiner ethisch-moralischen Prüfung in diesem Sinne stand.
Verbleibt die Frage, ob an dieser Stelle überhaupt von liberal gesprochen werden kann. Denn, siehe oben, zumindest die Kanzlerin sollte keinesfalls in diese Kategorie fallen. Auch ein Blick auf die Führungsebenen in Zeitungen und relevanten politischen Verlagen zeigt, dass hier eher konservativere Vorstellungen Vorrang haben. Es ist ein wenig wie mit der ZEIT. Man wäre gerne liberal, ist aber im Kern konservativ und mag es nicht zugegeben. Das Bernd Ulrich mit dieser in sich verkniffenen Realitätsverweigerung gleich sein ganzes Buch zu einem unrühmlichen Ende führte, ist bedauerlich.
- Ulrich befindet auch Merkel verantwortlich für die Zurückhaltung der Bundesregierung in Libyen. Dies ging jedoch auf die FDP zurück, die dafür viel Prügel kassierte. ↩